Empfehlungen zur Qualitätssicherung und wissenschaftlichen Begleitung von Viktimisierungssurveys

Stellungnahme zum Konzept der Bund-Länder- Projektgruppe "Verstetigung einer bundesweiten Dunkelfeld-Opferbefragung" vom 12. Juli 2017
Publikationsdetails
EXECUTIVE SUMMARY
Gesetzgeber, Wissenschaft und Praxis benötigen valide und gut ausgebaute Kriminal- und
Strafrechtspflegestatistiken. Das deutsche kriminalstatistische System genügt den Anforderungen nur noch bedingt. Es ist in mehrfacher Hinsicht optimierungsbedürftig. Hierzu erarbeitet eine vom RatSWD eingesetzte Arbeitsgruppe kurz-, mittel- und langfristig umzusetzende Empfehlungen.
In einem gesonderten Schritt entschieden die wissenschaftlichen Vertreter der AG „Weiterentwicklung der Kriminal- und Strafrechtspflegestatistik“ des RatSWD, Empfehlungen für einen Viktimisierungssurvey zu entwickeln und mit weiteren Expertinnen und Experten sowie im gesamten RatSWD zu diskutieren. Den konkreten Anlass für diese Stellungnahme gab der Beschluss der Innenministerkonferenz zur Verstetigung eines bundesweiten Viktimisierungssurveys vom 12.07.2017. Viktimisierungssurveys zielen auf eine verlässliche ganzheitliche Beobachtung der Sicherheitslage ab, wie sie in der Bevölkerung erlebt und von ihr wahrgenommen wird, und flankieren damit die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS).
Der RatSWD unterstützt das Vorhaben mit den im Folgenden zusammengefassten Empfehlungen:
- Für eine valide Einschätzung von Umfang, Struktur und Entwicklung der Kriminalität
genügen die Hellfelddaten der amtlichen Kriminal- und Strafrechtspflegestatistiken nicht.
Eine unverzichtbare Ergänzung ist ein bundesweiter Viktimisierungssurvey. Dieser sollte
sich nicht auf die Erhebung von Opfererfahrungen und Anzeigeverhalten in der Bevölkerung beschränken, sondern bspw. auch Aussagen zu den Gründen für eine Anzeige bzw. Nichtanzeige von Delikten, zur Schadensart, wie auch der Wahrnehmung und Bewertung polizeilicher und gegebenenfalls justizieller Reaktionen zu Kriminalitätsfurcht und Strafbedürfnissen zulassen. - Schwere Straftaten, z. B. schwere Gewalt- oder Sexualdelikte, sind relativ seltene Ereignisse. Um in Wiederholungsbefragungen statistisch zuverlässig Veränderungen (Zu- / Abnahmen) von erlittenen Delikten messen zu können, sind sehr große Stichproben erforderlich. Um Veränderungen von wenigstens 10 Prozent zumindest für häufige Delikte, wie z. B. persönliche Eigentums- und Vermögensdelikte, auf Bundesebene feststellen zu können, ist bereits eine Stichprobengröße von über 34.000 Befragten notwendig.
- Eine zentrale und einheitliche Durchführung der Stichprobenziehung und Aufbereitung der Adressdaten ist aus methodischen Gründen unerlässlich.
- Um Menschen mit nicht-deutscher oder doppelter Staatsbürgerschaft in der Stichprobe
angemessen zu erfassen, empfiehlt sich eine überproportionale Stichprobe aus der Einwohnermeldestatistik. - Die Durchführung der Interviews sollte in verschiedenen Sprachen möglich sein.
- Aus methodischen Gründen wäre ein Paneldesign mit wiederholt befragten Zielpersonen
vorteilhaft. - Eine face-to-face Befragung stellt aus methodischen Gründen den besten Befragungsmodus dar. Sollte eine face-to-face Befragung aus finanziellen Gründen nicht infrage kommen, stellt eine gut ausgestaltete schriftliche Befragung am ehesten eine Alternative dar. Dieser Modus ist weniger kostenintensiv, aber ebenso technologieunabhängig.
- Eine kontinuierliche Feldarbeit über das Jahr verteilt hätte einen gewichtigen Vorteil: Sie ist mit moderatem Personalaufwand – auch bei einer face-to-face Befragung – zu bewältigen. Die Interviews müssten nicht über einen begrenzten Zeitraum parallel durchgeführt werden, dadurch wäre der Personalaufwand geringer, die Kosten niedriger bzw. man könnte eine größere Stichprobe realisieren.
- Um die Antwortrate zu erhöhen, wird die Verwendung von bedingungslosen Teilnahmeanreizen empfohlen.
- Grundsätzlich sollte neben den vorgeschlagenen Umsetzungsmöglichkeiten flankierend
methodische Grundlagenforschung zu innovativen (digital unterstützten) Befragungsmöglichkeiten forciert werden. - Wünschenswert wäre ein regelmäßiger 2-jähriger Turnus für Wiederholungsbefragungen.
- Die Finanzierung muss dynamisch, möglichst politisch unabhängig, und mittelfristig gesichert sein. Der Einbezug von Drittmitteln könnte grundsätzlich bspw. für Querschnittsmodule oder Zusatzstichproben mitgedacht werden.
- Viktimisierungssurveys sollen aufzeigen, inwiefern die polizeilich-registrierte Kriminalität das tatsächliche Kriminalitätsaufkommen widerspiegelt. Aus wissenschaftlicher Sicht sollten Umsetzung und Analyse von Viktimisierungssurveys daher nicht (nur) von Sicherheitsbehörden verantwortet werden. Der Einbezug eines unabhängigen Forschungsinstituts oder z. B. des Statistischen Bundesamtes wird daher empfohlen.
- Eine langfristige und sichere Datenarchivierung und der strukturierte, nutzungsfreundliche Zugang zu den Daten für die unabhängige Wissenschaft sind von zentraler Bedeutung. Wünschenswert wäre dazu eine vertrauensvolle Datentreuhänderschaft. Es böte sich die Nutzung oder Neugründung eines Forschungsdatenzentrums (FDZ) an, in dem ggf. auch weitere Forschungsdaten aus der Ressortforschung der Sicherheitsbehörden zugänglich gemacht werden könnten.
- Der Einbezug von Wissenschaft und Forschung bei der Planung, Erhebung und Auswertung, bspw. in Form eines wissenschaftlichen Beirats, könnte einen hohen wissenschaftlichen Standard unterstützen und auf eine thematische Vielfalt und Grundlagenforschung hinwirken.
- Es wäre wünschenswert, wenn die Ergebnisse eines deutschen Viktimisierungssurveys mit
internationalen Befunden vergleichbar wären – was sich in den Befragungsinhalten wie auch in der Methodenwahl widerspiegeln sollt